Die unterirdische Skateboardszene lässt es krachen

Die Bahn in der Reinsburgstraße ist etwas für Könner wie Oli Kentner.
Foto: Czarnetzki

Stuttgart – Wenn es kalt wird, ziehen sie sich in ihre Geheimwinkel zurück. Dann brettern sie sieben Meter unter der Erde über Holzrampen und machen Tricks, die Smithgrind, Kickflip oder Noseblunt heißen: die Untergrundskater.

Von Robin Szuttor

Es soll wieder Frost geben in dieser Nacht. Ein junger Mann mit Wollmütze und weitem Anorak fährt mit seinem Skateboard über die Reinsburgstraße. Vor einem Altbau dringt ein seltsames Knirschen und Grollen auf den Gehweg. Es kommt von unten. Der junge Mann verschwindet in dem unbeleuchteten Hauseingang. Er geht in den gefliesten Keller, öffnet die dünne Holztür neben dem Heizraum. Die Geräusche werden lauter. Es riecht nach feuchtem Gemäuer. Er steigt die schmale Steintreppe hinab, sieben Meter unter die Erde, bis er vor einer alten Luftschutztür mit kleinem Guckloch und einem Schild „Bitte keine Hunde“ steht.

Industriestrahler beleuchtet den Gewölbekeller

Dahinter ist Lärm. Ein robuster Industriestrahler beleuchtet den Gewölbekeller. In der Ecke stehen ein kaputter Staubsauger und eine volle Abfalltüte. Die Theke der selbst gezimmerten Bar ist übersät mit Zigarettenschachteln, Wodkaflaschen und Kirschsaft-Tetrapaks. Der Kühlschrank sieht zwar miserabel aus, funktioniert aber. Die hüfthohen Lautsprecher sind ausnahmsweise stumm. Zwei Glühbirnen, die aus verbleichten Fassungen ragen, rücken das zentimetergenau eingepasste Herzstück des Kellers besser ins Licht: die Rampe. Hier, hinter meterdicken Mauern in den Tiefen des Stuttgarter Westens, treffen sich die Untergrundskater.

„Servus Rainer“, schreit der 29-jährige Micha Schöler. Ein Gespräch ist kaum möglich, denn Phil donnert die Senke hinunter, auf der anderen Seite hoch, schleift mit dem Skateboard über die Rampenkante, brettert wieder auf die andere Seite. So geht das zwanzig-, dreißigmal, dann federt er elegant zurück auf die Plattform wie ein Akrobat nach der Trapeznummer. Jetzt startet Julian. Zum Warmmachen muss er nicht extra die Zigarette aus dem Mundwinkel nehmen.

„Wir geben ein, zwei Stunden Gas, danach trinken wir ein Bierchen“, sagt Micha Schöler. Wer als Neuling dem monotonen Gleichtakt des Hin-und-her-Gerassels nicht etwas Hypnotisches abgewinnen kann, den machen die Kratz- und Rollgeräusche irgendwann irre. In den Wohnungen des Mehrfamilienhauses hört man keinen Laut davon, zu mächtig sind die Mauern. Über die Lüftungslöcher dringt das Gepolter gedämpft auf die Straße. Der Keller ist unbeheizt, hält aber im Sommer wie im Winter seine sechs Grad.

Man kommt nur mit Empfehlung auf die Rampe

Zwölf bis fünfzehn Mann gehören zum harten Kern der coolen Gang. Sie heißen Heiko, Pete, Sebo, Ralf, Manfred, Alex, Schwarz, Jürgen, Benny, Daniel oder Schenol. Sie sind Lehrer, Infografiker, Steuerberater, Handelsvertreter, Kneipiers, Ingenieure, Handwerker oder Künstler von Beruf und im Alter von Mitte zwanzig bis Mitte dreißig.

Man trifft sich zwischen November und März einmal die Woche, meistens mittwochs oder donnerstags, in lässigen Skaterklamotten. „Das ist alles ziemlich unverbindlich. Wenn einer Lust hat, schreibt er eine SMS. Wer will, kommt“, sagt der 34-jährige Rainer Czarnetzki. Wo sich der Keller genau befindet, ist ein Geheimnis. In der Szene hat es sich natürlich rumgesprochen. „Aber die Adresse kennen, heißt noch nicht reinkommen“, sagt Micha Schöler. Eigentlich darf man nur mit Empfehlung auf die Rampe, wobei mancher geladene Gast einfach eine Handvoll Wildfremder mitschleppt. Der 18-jährige Lem Villemin schlitterte auch schon über die Kanten – ausnahmsweise, weil er zur Weltelite zählt. „Die Jungen sollten sich einen Start aber erst mal erarbeiten“, sagt Micha Schöler. Ihm ging es früher ja auch nicht anders. „Als ich das erste Mal in den Skatekeller durfte, das war schon toll.“

Fast zwanzig Jahre ist es her, als in einem Hinterhaus in der Silberburgstraße die erste Stuttgarter Kellerrampe gebaut wurde. „Inzwischen ist daraus die wohl größte Kellerszene Deutschlands geworden“, sagt Rainer Czarnetzki. Was auch daran liege, dass die Stadt spät für öffentliche Anlagen sorgte und man auf Eigeninitiative angewiesen war.

Vier „Hot Spots“ in Stuttgart

Heute gibt es vier unterirdische „Hot Spots“ in Stuttgart. Die zwei Jahre alte Rampe in der Reinsburgstraße: „Groß, mit einer hohen Senkrechte. Etwas für Könner“, sagt der Hausherr Micha Schöler. „Im Gegensatz zu allen anderen Bahnen nicht mit Naturholz, sondern mit Siebdruckplatten belegt. Das macht die Bahn schneller.“

Die Kellerrampe in der Geißstraße: „Eher klein, niedrig und flach. Perfekt, um Tricks zu lernen, weil sie nicht so schnell ist und man nicht so tief fällt. Auch als Fortgeschrittener kann man hier gut neue Dinge ausprobieren, denn man traut sich mehr.“

Die Rampe in der Silberburgstraße: „Sehr steil, mittelgroß. Da geht es zack, zack, man muss richtig Gas geben, dann macht’s Spaß.“

Die Rampe in der Friedrichstraße, nicht wirklich geheim, nur sonntags geöffnet. „Extrem niedrig, man streift teilweise mit dem Rücken die Decke, der Platz ist aber optimal ausgenutzt. Das Tolle dran: sie ist eine Bowl, also rund, man kann im Kreis heizen.“

Rampe für 3000 Euro

In der Freiluftsaison findet man Micha Schöler und die anderen auf dem Vaihinger Unisportgelände, in Nürtingen beim Freibad, im Scharnhauser Park oder unter der Adenauerbrücke in Oberesslingen. Im Skaterpark am Pragfriedhof, wo nach langem Hin und Her nun endlich eine Betonschüssel steht, geht es auch bald rund. Freigegeben ist die Bahn noch nicht, die ersten Erfahrungsberichte sind aber schon im Umlauf. Der Tenor: „Coole Anlage. Was für echte Männer.“

Früher sind sie zum Skaten oft nach Ulm gefahren oder gleich nach Österreich. Heute, zwischen Familie und Beruf, fehlt es an Zeit. „Die Jungen skaten mehr und schaffen weniger, bei uns ist das andersherum“, sagt Micha Schöler. Dafür kann er sich eine 3000-Euro-Rampe leisten. Vier Wochen, und sie war fertig – eine durchgeplante Gemeinschaftsarbeit, auch wenn der Organisationsgrad der Truppe sonst äußerst gering ist.

„Wir sind kein Sportverein, haben keinen Kassenwart und auch keine Jahreshauptversammlungen“, sagt Micha Schöler. Das sei oft der Knackpunkt bei den öffentlichen Förderungen: „Meistens sind es zwei, drei Leute, die mit der Stadtverwaltung reden, sich den Arsch aufreißen, irgendwann keinen Bock mehr haben und die Sache hinschmeißen.“

„Man muss früh anfangen“

Skater sind ein loser Haufen, trotzdem haben sich die Jungs in den vergangenen zwanzig Jahren nie ganz aus den Augen verloren. Schon vor dem Teeniealter begannen sie, über Blumenkübel zu springen und Geländer herunterzuschlittern. „Man muss früh anfangen, viel Zeit haben und zäh sein, sonst wird’s nie was“, sagt der 31-jährige Oli Kentner. Als Halbwüchsige bekamen sie noch die Ausläufer des ersten Skateboardbooms mit, der Ende der Siebziger von Kalifornien bis ins Herz von Württemberg schwappte. Ihre Vorbilder waren Stuttgarter Legenden wie Matthew Bauer, Markus Keibel oder Pom Fritz. Die Stadt wurde ihr Abenteuerparcours. Das Selbstbild vom coolen Rebellen auf Rollen tragen sie immer noch in sich.

Rainer Czarnetzki ist in Tübingen aufgewachsen. Mit zwölf Jahren stand er zum ersten Mal auf dem Brett. An der Haustür hat er angefangen, dann zog er seine Kreise immer weiter. „An den Wochenenden war Stuttgart für uns Skate-City“, sagt er. „Die Hot Spots waren draußen in Cannstatt oder in der Wittwer-Unterführung, später in der stillgelegten Tunnelröhre am Schlossplatz mit den Graffiti und den Junkies.“ Das waren noch Zeiten. Heute werden wilde Skater früh gezähmt. „Keine fünf Minuten, schon ist die Security oder die Polizei da.“ Oder sie schrauben fiese Skatestopper auf die Mauern, so wie bei der Liederhalle. Dann ist es vorbei mit Grinden und Sliden.

Die Feinheiten des Sports erkennen nur Eingeweihte. Auf die Sprünge und das Kantensurfen kommt es an, soviel ist klar. Doch so wenig ein Eiskunstlauflaie den Lutz vom Salchow unterscheiden kann, so sehr ähneln sich auf den ersten Blick Skatertricks wie Nosegrind und Smithgrind, Hardflip oder Kickflip, Frontside-Tailslide, Noseblunt oder Switch-Backside-Lipslide, One-Foot-Wallride, Frontside-Ollie oder Ollie to Fakie.

Im Keller trennt sich die Spreu vom Weizen

Nach unzähligen Airs, Liptricks und ein paar Stürzen kommt Oli Kentner, der als Bester in dieser abendlichen Runde gilt, mit schwarzen Händen und nassgeschwitzten Haaren aus der Rampe gestiegen. Dann startet Micha. Im Keller, heißt es, trennt sich die Spreu vom Weizen. Die kurzen Flachstücke, die schmalen Übergänge und die stellenweise sehr niedrigen Decken muss man erst mal in den Griff kriegen, da braucht es viel Gefühl. Und das mit den Siebdruckplatten in der Reinsburgstraße ist auch nicht ohne. Bei hoher Luftfeuchtigkeit werden sie nämlich extrem rutschig, und dann wird es ziemlich riskant. „Das gehört dazu. Wir sind ja schließlich keine Golfer“, sagt Rainer Czarnetzki.

Sechs Bretter verbraucht er im Jahr, das kostet etwa 300 Euro. Meistens geht er am Wochenende, wenn seine kleinen Söhne Mittagsschlaf halten, auf Tour. „Das ist zwar ein extremer Individualsport, aber wir sind nie allein unterwegs“, sagt er. „Ich kenne in jeder größeren Stadt einen, den ich mal auf einem Skatetrip getroffen habe und bei dem ich jederzeit übernachten könnte“, sagt Oli Kentner. Typmäßig passe man oft gar nicht zusammen, tiefe Freundschaften seien das nicht. „Aber wir haben das Skaten, das verbindet.“

Quelle: STUTTGARTER ZEITUNG online

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