Stuttgart 21: Warum die Polizei wirklich so hart zuschlug

Bericht: Achim Pollmeier, Kim Otto, Ralph Hötte, Alexander Milanés

Sonia Seymour Mikich: „Willkommen, ich freue mich auf Sie und auf diese Sendung. Über Sinn oder Unsinn des Megaprojektes Stuttgart 21 ist viel berichtet worden und ab morgen können wir die Schlichtungsgespräche im Fernsehen und im Internet verfolgen, bei Phoenix und im SWR. Schöne Transparenz! Ein Aspekt blieb bislang aber unbelichtet. Sie erinnern sich: Bilder wie von den wüstesten Demos der späten 60er und 70er. Wasserwerfer, Pfefferspray, Hunderte Verletzte. Unser Autorenteam enthüllt, warum dies eine Eskalation mit Ansage war. Am 30. September ist die Balance zwischen Staat und Bürgern einfach weggeprügelt worden.“

In Stuttgart nennen sie den 30. September inzwischen den schwarzen Donnerstag. Hunderte Bürger wurden bei dem Polizeieinsatz vor drei Wochen verletzt, teilweise schwer. Wie es dazu kommen konnte, ist bis heute unklar. Doch die Aufarbeitung des Tages begann mit einer Falsch-Information der Landesregierung.

Tagesschau-Sprecherin Daubner: „Eine Sprecherin des Stuttgarter Innenministeriums sagte am Abend, die Einsatzkräfte seien mit Pflastersteinen angegriffen worden.“

Stefan Mappus Rechte: WDRNoch in der Nacht musste die Landesregierung diese Behauptung zurücknehmen. Ministerpräsident Mappus aber bleibt unmissverständlich: Die Schuld an der Eskalation, sagt er, tragen allein die Demonstranten.

Stefan Mappus, Ministerpräsident Baden-Württemberg am 01.10.2010: „Wer auf Arbeiter oder Polizeibeamte Flaschen wirft, selbst mit Pfeffersprays sprüht und sich nicht an die Anweisungen der Polizeibeamten hält, handelt rechtswidrig. Auf solche Situationen mussten die Beamten reagieren.“

Stimmt das? Die Polizeigewalt eine Reaktion? Gewalt der Demonstranten die Ursache der Eskalation? Auf ihrer Internetseite – für jeden anzuklicken – zeigt die Polizei Bilder der Gewalt gegen Polizeibeamte. Die härtesten Szenen: aus der Reihe der Demonstranten sprüht jemand Pfefferspray auf die Polizisten. Unten links im Bild jedoch hat die Polizei die Uhrzeit mit einem schwarzen Balken verdeckt. Genauso hier, wo ein Gegenstand den Wasserwerfer trifft. Uhrzeit verdeckt, angeblich aus „ermittlungstaktischen Gründen“. Pressekonferenz der Polizei Stuttgart, fünf Tage nach dem schwarzen Donnerstag. Hier präsentierte die Polizei die Bilder, die sie auch ins Internet gestellt hat. Nur hier, bei denselben Szenen, ist die Uhrzeit noch zu sehen – ohne schwarzen Balken. Der Pfeffersprayer – 14:00 Uhr. Wurf gegen den Wasserwerfer – 15:50. Die Polizeigewalt, eine Reaktion? Augenzeugen erlebten die Eskalation anders und früher. Die Deutsche Presseagentur meldete: „Um 12.48 Uhr setzt die Polizei erstmals die Wasserwerfer in Marsch und versprüht dazu massenhaft Pfefferspray.“ Die Bilder, die die Polizei zeigt, beweisen eben nicht, dass eine massive Gewalt von den Demonstranten ausging. Diesen Beweis bleibt die Polizei bis heute schuldig. Es gab Gewalt und Straftaten gegen Polizisten – vereinzelt. Der Ex-Polizist Bernhard Rogoll war früher bei etlichen Gewaltdemonstrationen dabei. Er saß damals im Wasserwerfer, benutzte den Schlagstock. Was er hier sieht, rechtfertigt eine solche Reaktion nicht, sagt er.

Bernhard Rogoll, ehem. Polizeibeamter: „Einzelne Straftäter wie sie da zu sehen waren, kann man mit diesen besonderen Festnahmetrupps, die da in schwarz zu sehen waren von Seiten der Polizei, kann man wunderbar festnehmen. Es ist keinerlei Rechtfertigungsgrund und auch außerhalb jeder Verhältnismäßigkeit, so massiv gegen friedliche Demonstranten vorzugehen.“

Alfred Müller-Kattenstroth war im Schlosspark dabei. Die Absicht der Polizei, die Demonstranten für den Gewaltausbruch verantwortlich zu machen, empfindet er als blanke Beleidigung. Er stand nur am Rande des Geschehens. Dennoch plötzlich: Pfefferspray der Polizei aus 30 cm, direkt ins Gesicht.

Alfred Müller-Kattenstroth Rechte: WDRAlfred Müller-Kattenstroth, Teilnehmer-Demonstration: „Ich bin dann in diesem Notlazarett gelandet auf den Bänken, dort waren … so stell ich mir Krieg vor … es waren plötzlich hunderte Leute da, sodass es keine Plätze mehr gab, von Leuten die die Augen auszuwaschen waren.“

Reporter: „Verletzte? Andere Verletzte?“

Alfred Müller-Kattenstroth, Teilnehmer-Demonstration: „Andere Augenverletzte, vor allem Augenverletzte.“

Den wahren Hergang der Dinge will die Polizei aber offenbar nicht zeigen. Beispiel, diese Bilder: Demonstranten bedrängen die Einsatzkräfte. Bilder von Augenzeugen decken auf, was die Polizei nicht zeigt. In der gleichen Situation gehen die Einsatzkräfte massiv gegen die Demonstranten vor – sogar mit Schlagstock. Das zeigt die Polizei aber nicht. Die Stuttgarter Polizei kann bis heute nicht einmal überzeugend erklären, warum sie ausgerechnet am 30. September die Einsatzkräfte im Schlossgarten aufmarschieren ließ. Ausgerechnet am Tag einer Schülerdemonstration, die sich auf den Park zubewegte, in dem ohnehin schon massenweise Menschen waren. Hätte es keinen besseren Tag, keine bessere Zeit gegeben, um die umstrittenen Flächen abzusperren, wenn nicht so viele Menschen anwesend sind? Zum Beispiel morgens früh um sechs?

Siegfried Stumpf, Polizeipräsident Stuttgart: „Wir haben nicht um sechs Uhr morgens angefangen, weil sie mit den ganzen Maßnahmen in den Berufsverkehr hineinkommen.“

Und so sieht es aus um sechs Uhr morgens am Stuttgarter Schlossgarten. Das ist der Berufsverkehr, vor dem die Polizei angeblich ausweichen wollte. Falschinformationen, Unklarheiten. Wollte man solche Gewaltszenen vielleicht bewusst provozieren, solche abschreckenden Bilder bewusst in die Medien bringen? Der Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes war bis vor einigen Jahren Leiter der Polizeihochschule in Baden-Württemberg, er schulte selbst Polizeiführer. Er kennt manche Beteiligte des Einsatzes persönlich. Sein Urteil – eindeutig.

Prof. Thomas Feltes Rechte: WDRProf. Thomas Feltes, Polizeiwissenschaftler: „Das alles ist keine typische polizeiliche Strategie gewesen für vergleichbare Fälle, sondern es ist eine Strategie gewesen, die von Anfang an auf Konfrontation, durchaus auch auf Gewalt angelegt gewesen ist.“

Thomas Mohr gehörte zu den Polizisten, die am schwarzen Donnerstag gegen die Stuttgarter Bürger vorgehen mussten. Bis dahin waren er und seine Kollegen den Demonstranten immer sehr defensiv entgegen getreten. Die so genannte „Stuttgarter Linie“ gilt in Polizeikreisen bundesweit als anerkannte Strategie der Deeskalation.

Thomas Mohr, Gewerkschaft der Polizei Rechte: WDRThomas Mohr, Gewerkschaft der Polizei (GdP): „Dann kommen wir am 30.09. in diesen Schlossgarten und dann hat sich das ganze überaus, sehr martialisch für mich dargestellt. Es waren auf einmal Wasserwerfer da, es waren Beweis- und Festnahmeeinheiten da, die so genannten BFEen, die ja eigentlich eingesetzt werden, wenn man befürchten muss, dass eine Demonstration sich zu einer gewalttätigen Demonstration entwickeln kann. Und das hat überhaupt nicht zu dem Bild gepasst, dass ich von den vorhergehenden Einsätzen gewohnt war.“

Ein Strategiewechsel? War eine Eskalation wirklich gewollt? Ein anonymes Schreiben aus Polizeikreisen bestärkt diesen Verdacht. Es ging schon vor der Demonstration bei den Landtagsfraktionen von SPD und Grünen ein. Ein Warnruf, der wirkt wie eine Blaupause der Eskalation vom 30.09. Der Eingangsvermerk datiert vom 28. September, also zwei Tage vor dem Einsatz. Der Verfasser gibt sich als „Angehöriger des Führungs- und Einsatzstabes beim Polizeipräsidium Stuttgart“ aus, verfügt eindeutig über Insider-Informationen. Demnach wurde vor der Demonstration ein härteres Vorgehen geplant, um zu dokumentieren, dass die Demo-Teilnehmer gewaltbereit sind. So wolle man verhindern, dass weiterhin eine große Anzahl von Menschen an den Protestversammlungen teilnimmt. Alle Experten, denen MONITOR das Papier vorlegt, halten es für authentisch. Und – wer immer das Papier geschrieben hat, er sollte Recht behalten. Tage später werden die Fragen nach der Verantwortung für den Polizeieinsatz immer drängender. Der Stuttgarter Polizeipräsident versucht, die Politik aus der Schusslinie zu nehmen.

Siegfried Stumpf, Polizeipräsident Stuttgart Rechte: WDRSiegfried Stumpf, Polizeipräsident Stuttgart: „Für diesen Einsatz bin ich verantwortlich und sonst niemand. Man muss das nicht in der Politik suchen, man muss das nicht woanders suchen.“

Eine ehrenwerte Aussage, aber stimmt sie? Dieser Mann glaubt das nicht – Günther Rathgeb, ehemals leitender Polizeidirektor in Stuttgart. Nur wenige kennen den jetzigen Polizeipräsidenten so gut wie er. Stumpf war mehr als zehn Jahre einer seiner engsten Mitarbeiter.

Günther Rathgeb Rechte: WDRGünther Rathgeb, Polizeidirektor a.D., Stuttgart: „Der Stumpf, den kenne ich seit ca. 35 Jahren, er war mein Einsatzreferent. Er hat mit entscheidend die Stuttgarter Linie „geprägt“, die angelegt ist auf Deeskalation, auf Berechenbarkeit. Es muss irgendein Druck bestanden haben auf ihn, oder eine Zielvorstellung, die niemand kennt. Unter Umständen auch eine Weisung – wie auch immer, das weiß ich nicht, will ich auch nicht unterstellen. Aber irgendetwas muss gewesen sein, dass der Stumpf so atypisch – für ihn so atypisch – reagiert hat an diesem Donnerstagmorgen.“

Prof. Thomas Feltes, Polizeiwissenschaftler: „Polizeieinsätze in dieser Dimension und mit diesem politischen Hintergrund können nicht ablaufen, ohne dass sie vorher politisch abgestimmt worden sind. Und es ist für mich im Grunde genommen nachvollziehbar und relativ eindeutig, dass hier eben im Vorfeld eine bestimmte politische Linie vorgegeben worden ist, um eben Macht zu zeigen, um Stärke zu zeigen.“

Genau das legt auch der anonyme Informant aus der Stuttgarter Polizeiführung nahe. Er befürchtete schon vor dem Einsatz, die Polizeistrategie werde für den Landtagswahlkampf im Sinne der CDU-Politik verändert, da sich Ministerpräsident Mappus als Law-and-order-Mann profilieren wolle. Wahlkampf mit Wasserwerfern? Fest steht, dass der Druck auf den Ministerpräsidenten Mappus zuletzt immer größer wurde. Seine Umfragewerte – im Keller. Seine letzte Hoffnung, um die Wahl nicht zu verlieren: Als starker Mann die konservativen Wähler auf seine Seite ziehen.

Prof. Thomas Feltes, Polizeiwissenschaftler: „Sowohl Mappus als auch die CDU insgesamt ist so eng mit diesem Projekt verknüpft, dass ein Scheitern dieses Projektes nicht nur das Scheitern von Mappus, sondern eben auch der CDU über Baden-Württemberg hinaus bedeuten könnte. Und das glaube ich, ist allen Beteiligten von Anfang an bewusst gewesen, und entsprechend hat man sich hier auch versucht abzusichern und Einfluss zu nehmen.“

Wer hat den Gewalt-Einsatz politisch zu verantworten? Wir haben den Polizeipräsidenten, den Innenminister und auch den Ministerpräsidenten um ein Interview gebeten – abgelehnt. Wir haben etliche Fragen schriftlich gestellt – mehrfach. Keine Antwort, stattdessen ein Verweis auf Anfragen der Opposition im Landtag. Laut Gesetz sind Behörden den Medien gegenüber zur Auskunft verpflichtet. In Stuttgart fühlt man sich daran offenbar nicht gebunden.

Sonia Seymour Mikich: „Gegen Thomas Mohr – das ist einer der Polizisten, die mit uns gesprochen haben – werden jetzt dienstliche Maßnahmen ergriffen. Weil er offenbar Art und Umfang des Polizeieinsatzes in Stuttgart kritisierte. Freie Meinungsäußerung? Ja was denn sonst!“

Quelle: http://www.wdr.de/tv/monitor/sendungen/2010/1021/stuttgart.php5